Null Komma — re... re... re... re... re...
Ko-Performance mit Andrea Saemann
* Zeichnung © Lena Eriksson *
Bericht von Wolfram Goddeck
Zwei Frauen, Andrea Saemann und Dorothea Rust, kochen Randensuppe mit Chili auf dem Rümelinsplatz. Sie entblössen ihren Oberkörper und ziehen Küchenschürzen über die blanke Brust. Andrea trägt eine grosse, blonde Perücke. Sie stellen zwei Töpfe voll roter Suppe auf die Strasse. Daneben steht ein Tisch mit zweimal zehn Gläsern und eine Schnapsflasche. Die eine Frau kniet vor dem Suppentopf, ruft laut repeat (oder so ähnlich) und taucht ihren Kopf tief in die rote Brühe. Die andere steht beim Tisch, packt ein gefülltes Schnapsglas, leert es mit einem Ruck. Da taucht Dorothea aus dem Suppentopf auf, prustet und sieht aus wie Jennifer Jason Leigh am Schluss von The Hateful Eight. Jetzt kniet Andrea vor ihrem Topf, ruft irgendwas Englisches (return oder reburn) und steckt ihren Kopf und Schopf tief in die rote Suppe, während Dorothea stehend und grölend ihren Schnaps leert. Die Gläser sind am Tisch festgeklebt, müssen gewaltsam losgerissen werden, der Schnaps spritzt ins Gesicht und auf die Strasse. Eine obszöne Orgie? Ein sinnloses Geschehen, aber eins, dass auch zufällige Passanten in seinen Bann zieht. Die bacchantische Orgie beruht auf Wiederholung. Man begreift: Wenn die eine kniet und das Gesicht in den Topf taucht, kippt die andere den nächsten Schnaps. Je zehn Gläser auf dem Tisch machen deutlich, dass sich die bizarre Prozedur bis zum Ende der Gläserreihe wiederholen wird – repeat: Die Schnapsgläser geben den Takt an. Immer dann, wenn die eine den Schnaps kippt, muss die andere hinknien und ihren Kopf in der Suppe verlieren – oder umgekehrt. Es sind diese Wiederholungen, die eine flüchtige Komik produzieren, die ebenso flüchtig ist wie die fetischistischen Anspielungen auf Küchenschürze und rituelle Erniedrigung. Die Überschreitung, die sich im Knien auf der Straße und im Kopfwegtauchen realisiert, ist devote Unterwerfung und souveräne Machtdemonstration in einem. Der Zuschauer ist dabei als Voyeur. Aber er erkennt dabei: Die Enthemmung hat eine seltsame Logik, welche die knienden Suppenköchinnen und schwankenden, prustenden, lachenden Mänaden lenkt – ja, an die «Bakchen» denkt man, an den alten Dionysoskult, wie ihn Euripides in seiner Tragödie feiert. Die scheinbar willkürlichen Bildassoziationen, die in der rhythmischen Erregung eines sinnlosen Hin und Her aufblitzen, schaffen ein Gefühl von Symbol und Sinn in der Nacht auf dem Rümelinsplatz. Und hat hier nicht schon Nietzsche, der «letzte Jünger des Dionysos», über das Bacchantische nachgedacht? Darüber, dass der grausame Gott der Bacchantinnen lacht? Dass die dionysische Orgie bei aller obszönen Enthemmung nach strengen Regeln funktioniert? Und dass sie nicht harmlos, aber schön, streng, rauschhaft und unwirklich ist? Remember, return, reburn, replant.
Wolfram Groddeck
veröffentlicht auf www.apresperf.ch